Eine Chance in der Pandemie – voneinander lernen
Gemeinsam mit Forschenden aus Südkorea, Südafrika und der Demokratischen Republik Kongo will der Sozial- und Kulturanthropologe Hansjörg Dilger untersuchen, wie sich Corona-bedingte Mobilitätsbeschränkungen auswirken.
Die Menschen auf der ganzen Welt müssen derzeit eine in diesem Ausmaß noch nie dagewesene Erfahrung machen: eine globale Pandemie, deren Ausgang und Ende nicht absehbar sind. Ebola, Malaria, SARS – das waren und sind verheerende Epidemien, die hauptsächlich in Afrika und Asien auftreten. Corona jedoch trifft alle Kontinente und Gesellschaften und verändert durch die Einschränkungen der sozialen Kontakte und der Mobilität das Leben drastisch.
Einige Länder scheinen zumindest punktuell besser damit zurecht zu kommen als andere: Südkorea etwa, das bereits mit dem SARS-CoV-1-Virus und mit dem Mers-Virus zu tun hatte. Auch Länder wie Südafrika oder die Demokratische Republik Kongo haben Erfahrungen mit gefährlichen Epidemien gemacht: mit HIV/AIDS beziehungsweise Ebola.
"Die Weltbevölkerung sollte die Corona-Pandemie nutzen, um Gesundheitsfragen erstmals wirklich global zu betrachten und bei der Eindämmung des Virus etwa durch Mobilitätsbeschränkungen von den Erfahrungen anderer zu profitieren. Man sollte sich fragen, was sich eventuell auf das eigene Land übertragen lässt – oder was auch nicht übertragbar ist – und wie man gemeinsam Herausforderungen wie die Verteilung des Impfstoffs meistern kann", sagt der Sozial- und Kulturanthropologe Hansjörg Dilger, Professor an der Freien Universität Berlin. Bislang sei ein "Gemeinsam" von globalem Norden und globalem Süden kaum zu erkennen.
Wer trägt welche Folgen?
Zusammen mit Partnerinnen und Partnern aus Südkorea, Südafrika und der Demokratischen Republik Kongo sowie an den Universitäten Bayreuth und Halle möchte Dilger das Projekt "Mobility Regimes of Pandemic Preparedness and Response: The Case of Covid-19" realisieren, das durch seine vergleichende Perspektive interessante Ergebnisse erwarten lässt. Die ethnografische Studie will die unterschiedlichen Ansätze zur Einschränkung und Überwachung von Mobilität untersuchen. Sie wirft die Frage nach den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Folgen auf und untersucht, welcher individuelle oder kollektive Preis für die teils harten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zu zahlen ist.
Dafür werden in den am Projekt beteiligten Ländern die Menschen zu den Veränderungen in ihrem Alltag befragt und Netzwerke mit Stakeholdern aus NGOs, Wissenschaft und Politik aufgebaut. In der Demokratischen Republik Kongo etwa seien von regionalen Grenzschließungen zu Rwanda stark die informellen Handelsnetzwerke von Frauen betroffen. Erforscht wird dieser Aspekt von Nene Morisho, Direktor des Pole Institute in Goma. Aber auch Südafrika könne gut als Beispiel für eine Gesellschaft dienen, in der die große soziale Ungleichheit durch Covid-19 noch verstärkt wird, sagt Hansjörg Dilger.
Der Blick nach Südafrika
"Zugleich ist Südafrika aber auch ein Staat, der relativ gut funktioniert", erläutert die Anthropologin und Projektpartnerin Julia Hornberger, Professorin an der University of the Witwatersrand in Johannesburg. "Zwar gibt es Korruption, Inkompetenz und viele Mängel, aber staatliche Institutionen und Strukturen durchdringen die Gesellschaft bis in die abgelegensten Regionen, und Beihilfen erreichen viele. Diese starken staatlichen Strukturen haben dazu geführt, dass Südafrika nicht nur einen sehr harten Lockdown verkündete, sondern ihn auch durchsetzen konnte – vor allem von März bis Juni 2020."
Eine Kombination aus Angst vor der Polizei und Angst vor dem Virus habe dazu geführt, dass ein Großteil der Bevölkerung sich den Lockdown-Regulierungen protestlos unterwarf und sie befolgte, so Hornberger. Die Angst vor der Polizei, die sich öfter auch außerhalb des Gesetzes bewege, wurzele in der Apartheidsgeschichte. Die Angst vor Corona wiederum hänge mit den Erfahrungen mit HIV/AIDS zusammen; das Bewusstsein für die tödliche Kraft und schlimmen Folgen von Viren sei sehr präsent.
Auffallend findet Hansjörg Dilger, wie rasch sich in Südafrika in den ärmeren Gegenden informelle Organisationen gebildet hätten, die unter anderem Essenspakete verteilten. "Starke, solidarische Netzwerke braucht es gerade dort, wo die Pandemie massive Auswirkungen auf einzelne Bevölkerungsgruppen hat, die ihrer täglichen Einkommenssicherung aufgrund des Lockdowns nicht nachgehen können und die keine staatliche Unterstützung erhalten wie etwa nicht-lizensierte informelle Händler. Auch entstand in Südafrika dort zivilgesellschaftliche Unterstützung, wo Menschen vom Staat kriminalisiert und aus informellen Siedlungen vertrieben wurden", sagt er.
Von Menschlichkeit und striktem Durchgreifen
"Diese Initiativen sind teilweise effektiver als der Staat selbst", berichtet Julia Hornberger. "Den meisten, vor allem schwarzen Südafrikanern ist die Idee nicht fremd, dass man seine eigenen Wünsche einschränkt, um anderen zu helfen. Prinzipien wie black tax (sein Einkommen mit anderen zu teilen) und ubuntu (Menschlichkeit und Solidarität) beruhen darauf, dass die eigene individuelle Freiheit den Bedürfnissen der Familie oder der Gruppe untergeordnet wird", erläutert die Anthropologin.
Südkorea wiederum fährt eine andere, eigene Strategie: Ihr Land habe sich sehr effektiv bei der frühzeitigen Identifizierung und Isolierung von Infektions-Einzelfällen und -Clustern gezeigt, sagt Bo Kyeong Seo, Professorin für Anthropologie an der Yonsei University. Doch das Contact Tracing und die Kohorten-Isolation von bestimmten Gruppen haben auch ihre Schattenseiten. "Obwohl die Strategie ‚Testen, Verfolgen, Isolieren‘ eine viel weniger strenge Maßnahme ist als die Sperrung auf nationaler Ebene, hat sie die Mobilität und damit das Leben von Einzelpersonen und insbesondere von gefährdeten Gruppen wie Behinderten und älteren Leuten stark beeinträchtigt."
Auch Hansjörg Dilger sieht die Effektivität von Südkoreas Strategie der strikten Nachverfolgung und Isolierung von Infektionsfällen, doch gebe es natürlich Grenzen der Übertragbarkeit solcher "Erfolgsrezepte": "Es ist in Deutschland undenkbar, dass Mitarbeitende des Gesundheitsamtes oder der Polizei unangemeldet in Privatwohnungen auftauchen und Maßnahmen durchsetzen. Doch das ist ja kein Grund, nicht aus den Erfahrungen der anderen zu lernen, um eigene, passendere Konzepte zu entwickeln."