Story

Radikale Demokratie – Wie Bürger:innen mit Politik von unten solidarisch Probleme lösen 

#Demokratie

Autorin: Nora Belghaus

Illustration einer Gruppe Protestierender

5 Länder, 10 Städte, über 100 Initiativen – der Sozialwissenschaftler Helge Schwiertz untersucht in einem groß angelegten Forschungsprojekt, wie Bürger:innen gemeinschaftlich auf lokaler Ebene nach Lösungen für die großen Krisen in Europa suchen.

Wohnungsnot, Care-Notstand und Migrant:innen in Not – kaum ein sozialer Bereich unseres gesellschaftlichen Lebens kommt noch ohne das Wort mit drei Buchstaben aus. Ein kleines Wort, das große Missstände anzeigt. Das Forschungsprojekt Enacting Citizenship and Solidarity in Europe "From Below" (ECSEuro) unter der Leitung von Dr. Helge Schwiertz beschäftigt sich mit der Frage, wie direkt von diesen Nöten betroffene Menschen mit ihnen umgehen. Menschen, die nicht am großen Steuerrad der Politik sitzen, sondern als kleine Räder im Getriebe der Gesellschaft versuchen, die Not einzudämmen und auf die Missstände hinzuweisen – gemeinschaftlich, solidarisch und selbstbestimmt.

Alles begann vor gut drei Jahren. Helge Schwiertz, wissenschaftlicher Mitarbeiter (Postdoc) am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie der Universität Hamburg, heute 40 Jahre alt, grübelte damals mit Kolleg:innen über geeignete Forschungsfragen für eine Einreichung bei der VolkswagenStiftung, die eine Förderinitiative mit dem Titel "Challenges for Europe" ausgeschrieben hatte. 

Die Herausforderungen für Europa ergaben sich für die Wissenschaftler:innen recht klar aus den großen Krisen unserer Zeit und ihren Folgen. Da ist die Finanzkrise, die Mitte der 2000er Jahren ihren Anfang nahm und sich bis heute stark auf den Bereich Wohnen auswirkt. Der Ausbruch von Kriegen und Konflikten treibt vor allem seit den 2010er Jahren abertausende Menschen in die Flucht nach Europa und stellt die Länder der Europäischen Union vor Fragen von Ressourcenverteilung und -gerechtigkeit. Und 2020 offenbarte die Pandemie besonders Missstände in Pflege und Carearbeit.  

Portrait eines Mannes

Helge Schwiertz hat am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Hamburg u. a. folgende Forschungsschwerpunkte: Sozialtheorie und politische Theorie, soziale Bewegungen sowie Rassismus- und Migrationsforschung. 

Schwiertz und sein Team seien schnell bei einer Feststellung gelandet, sagt er: "Dass die Nationalstaaten keine wirklichen, passenden Lösungen für diese Krisen haben, weshalb wir herausfinden wollten, ob es auf der Ebene der Städte und urbaner sozialer Bewegungen innovativere, passendere Ansätze gibt, um eben diese Krisen zu adressieren." Ein Forschungsansatz, der verfing, und so ging es mit dem länderübergreifenden Projekt im Februar 2022 los, mit Schwiertz als ungewöhnlich jungem Projektleiter.

Fokus auf Wohnen, Migration und Care-Arbeit

Im ersten Schritt ging es zunächst um die Bestandsaufnahme in jeweils zwei Städten aus fünf Ländern, in denen geforscht werden sollte: Italien, Slowenien, Schweiz, Deutschland und Dänemark. Die Leitfrage für dieses sogenannte Mapping: Welche Bürgerinitiativen beschäftigen sich in welchen Städten mit Problemen in den drei Bereichen Wohnen, Migration und Care-Arbeit?

In einem zweiten Schritt widmeten sich die Forschenden einer Dokumentenanalyse. Sie sammelten analog wie digital alles, was sich an Material zu oder von den Bürgerinitiativen finden ließ: Etwa Flugblätter, auf denen zu Demos oder Plakate, auf denen zu Unterschriftensammlungen aufgerufen wird; Webauftritte, die über die Forderungen oder Aktionen der Initiativen informieren; Newsletter, in denen aktuelle Hilfsangebote verkündet werden. "Wir haben uns angeschaut, welche Sicht auf gegenwärtige Probleme die politischen Initiativen entwickeln, was für sie bedeutsam ist, aber auch, welche Lösungsansätze sie vorschlagen", erklärt Schwiertz. Und er betont: "Wir haben die Initiativen dabei selbst als Wissensproduzent:innen begriffen, die eigene starke Analysen der gegenwärtigen Bedingungen liefern." Ein Ansatz für möglichst viel Augenhöhe zwischen Forschenden und Beforschten.

Die meisten Initiativen setzen an alltäglichen Problemen an, sie bauen gegenseitige Hilfe auf, das bildet eine Basis für Protestaktionen, die sich an die Politik richten.

Auf Basis des Mappings und der Dokumentenanalyse wurden dann politische Initiativen ausgewählt und mit Methoden ethnografischer Feldforschung begleitet. Also teilnehmende Beobachtung und Interviews mit offenen Fragetechniken statt Datenerhebung und statistischer Auswertung. Kurzum: Begleiten, beobachten, dabei sein, wenn die Initiativen Treffen organisierten und durchführten, Probleme besprachen, nach Lösungen suchten.

Die Transkripte der Interviews, die Notizen aus der Feldforschung, alles wurde stets unter den Teams länderübergreifend geteilt und besprochen: In kleineren Arbeitsgruppen und bei den Treffen des länderübergreifenden Konsortiums, zwei mal im Jahr an wechselnden Orten.

Soziale Zusammenhänge schaffen

Was kam dabei heraus? Ganz grundsätzlich fasst Helge Schwiertz es so zusammen: "Die meisten Initiativen setzen an alltäglichen Problemen an, sie bauen gegenseitige Hilfe auf, das bildet eine Basis für Protestaktionen, die sich an die Politik richten." Und er betont: "Die wechselseitige Unterstützung selbst ist schon eine Form des politischen Aktivismus, sie schafft stabile soziale Zusammenhänge, die Wirkung zeigen, in einer nachhaltigen Form der Organisation."

Im Konkreten sind das zum Beispiel die Women in Action aus Hamburg, die im Randbezirk Rahlstedt gegen die Unterbringung von Geflüchteten in Lagern protestieren, aber auch Gemeinschaft leben, indem sie zum Beispiel zusammen essen oder Aktionen für Kinder anbieten. Die Betreuung von Kindern spielt für den politischen Aktivismus eine bedeutende Rolle. Denn nur wenn sie gewährleistet ist, haben ihre Mütter den nötigen Freiraum, sich zu organisieren.

Ein anderes Beispiel aus Hamburg ist die Gruppe Wilhelmsburg Solidarisch, die in dem als arm stigmatisierten, aktuell aber zunehmend Gentrifizierung ausgesetzten Arbeiterviertel Stadtteilversammlungen durchführt und regelmäßig gegenseitige Sozialberatung anbietet. Dort können die prekär lebenden Bewohner:innen über ihre Probleme sprechen, etwa Arbeitslosigkeit, steigende Mieten und Verdrängung. Aus dem Sprechen folgen wechselseitige Hilfe und oft weitere konkrete Aktionen wie Kundgebungen vor dem Jobcenter oder die Planung einer Stadtteil-Gewerkschaft.

Illustration einer Fassade mit Menschen auf Balkonen

Auch in Dänemark geht der Kampf um bezahlbaren Wohnraum über das bloße Recht auf Wohnen hinaus. Ein Gesetz von 2019 zur Umstrukturierung von "Problemvierteln" in den Städten, auch bekannt als Ghetto-Gesetz, damals begleitet vom polemischen Schlachtruf "Keine Parallelgesellschaften mehr bis 2030", führt seither zur Vertreibung der ansässigen Bevölkerung auf Grundlage rassistischer Kriterien. "Die Gruppen, die sich bildeten, um dagegen zu protestieren, kämpfen aber nicht nur gegen Verdrängung und Ausgrenzung, sondern auch für ein Recht auf Community und Gemeinschaft", erklärt Schwiertz. 

In der Schweiz wiederum beschäftigen sich viele Gruppen mit dem Thema Care-Arbeit. Weil es dort weniger staatliche Leistungen wie etwa Elterngeld gibt, um finanzielle Verluste durch nicht-vergütete Care-Arbeit auszugleichen, versuchen lokale Gruppen einen Ausgleich zu schaffen. Zum Beispiel durch kollektive und selbstorganisierte Kinderbetreuung oder Chat-Gruppen für Eltern, in denen sich – insbesondere Mütter – über alltägliche Probleme austauschen und um Hilfe in konkreten Fällen bitten können, auch wenn es um materielle Nöte geht. "Der Austausch über alltägliche Probleme schafft ein Solidaritätsgefühl", sagt Schwiertz. Das setze auch der stetig zunehmenden Individualisierung und Vereinzelung in unserer Gesellschaft etwas entgegen und den Phänomenen, die damit einhergehen, wie etwa Einsamkeit.

Radikale Demokratie und präventiver Antifaschismus

"Solidarity and citizenship", zu deutsch Solidarität und Bürgerschaft, sind zentrale Begriffe für die Forschenden. Schwiertz erklärt: "Wenn man über Bürgerschaft spricht, denkt man häufig an die einzelne Person, den Bürger oder die Bürgerin, meist in seinem oder ihrem Verhältnis zum Staat. Was wir entwickeln wollen, ist ein Begriff von horizontaler Bürgerschaft." Damit ist gemeint, dass Bürger:innen jenseits der staatlichen Strukturen, von Wahlen und Ämtern und ihren Hierarchien, politische Subjekte sein können.

In der Wissenschaft spreche man auch von präfigurativer Politik. In Bezug auf die Initiativen bedeute das, "dass sie nicht nur eine radikal politische Forderung stellen und dann auf eine Reaktion des Staates warten, der ihre Probleme löst. Sondern dass sie selbstwirksam aktiv werden und Strukturen schaffen, die bereits Antworten geben auf das, was der Staat nicht oder nur ungenügend bereitstellt." Ein weiterer Begriff, der im Gespräch mit Helge Schwiertz oft fällt, ist der des Commons, des Gemeinguts. Das sind jene Güter, die Bürger:innen für die Gemeinschaft produzieren, die eine Brücke schlagen zwischen dem öffentlichen Bereich der staatlichen Versorgung und dem privaten Eigentum und essentiell für alltagspraktische Infrastrukturen der Solidarität sind.

Illustration eines jungen Mannes, der einem älteren Paar eine Einkaufstüre bringt.

"Das, was wir in den Bürgerinitiativen vorfinden, sind Prozesse einer radikalen Demokratie, denn Demokratie findet nicht nur in den Parlamenten statt", fasst Schwiertz zusammen. Er betrachtet Demokratie als "unendliche Aufgabe", in der die Prinzipien von Gleichheit und Freiheit in jeglichen Alltagssituationen gelebt werden. Aus dem Forschungsprojekt ziehe er daher auch die Erkenntnis: "Diese Form des Politikmachens von unten wirkt wie ein präventiver Antifaschismus, da Menschen wieder mehr Selbstwirksamkeit erfahren und damit Ohnmachtsgefühle im Angesicht von Missständen minimiert werden."

Ein wichtiges Gegengewicht gegen rechtsextreme Kräfte, die Begriffe wie Solidarität nicht zuletzt auch für sich beanspruchen, aber eben unter Ausgrenzung all jener, die in ihrer Ideologie keinen Platz finden und damit wider des demokratischen Prinzips der Gleichheit. "Rechtsextreme Parteien wie die AfD geben vor, Antworten auf soziale Fragen zu geben, bieten aber nur vermeintlich einfache Lösungen an", sagt Schwiertz. Tatsächlich werde überwiegend ein soziales Phänomen problematisiert, nämlich das der Migration. Das löse jedoch nicht die konkreten Probleme der Menschen, sondern schüre vor allem Angst, die wiederum in Ohnmachtsgefühlen münden könne. Bürgerinitiativen, die nach demokratischen Prinzipien handeln, wirken also wie ein Gegengift: Sie brechen die Isolation auf und schaffen soziale Geflechte, die nach außen offen und zugänglich für alle sind. Sie bieten Perspektiven auf konkrete Lösungen für konkrete Probleme.

Wissenschaft, die Wissen für alle schafft

Eine weitere Frage, der sich das Forschungsteam widmete, war die nach translokalen Verbindungen der Initiativen. Also ob sich Gruppen über ihre Kiez-, Stadt- oder gar Ländergrenze hinaus mit anderen Communities, die ähnliche Missstände bearbeiten, vernetzen und austauschen. Insgesamt sei das jedoch eher selten der Fall, beobachteten die Forschenden. "Vernetzung ist eine große Herausforderung für die meisten Initiativen. Ihre Kapazitäten werden durch die alltäglichen Kämpfe oft bereits erschöpft", sagt Schwiertz. Dennoch gibt es Verbindungen. Die Berliner Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen habe zum Beispiel als Vorlage für eine ähnliche Initiative in Hamburg gedient – Hamburg Enteignet. Sie hat aber auch wohnungspolitische Initiativen in schweizer und dänischen Städten inspiriert

Wir wollen nicht nur die sein, die hingehen und Wissen für die Wissenschaft abzapfen. Wir wollen auch für die Bewegungen von Nutzen sein.

Kampagnen, die versuchen, mittels Volksentscheid große Veränderungen anzustoßen, erfordern oft nicht nur Fähigkeiten und Ressourcen zur Organisation, sondern auch juristisches Fachwissen oder gute Kontakte in entsprechende Fachkreise. Wer bringt diesen Erfahrungsschatz mit? Tatsächlich seien es nicht nur Aktivist:innen, die schon seit Jahrzehnten Politik betrieben, die die Bürgerinitiativen tragen, sagt Schwiertz: "Wir haben gesehen, dass der Aktivismus häufig von direkt Betroffenen ausgeht, also etwa denen, die von einer Vertreibung im Stadtteil betroffen sind oder die als Geflüchtete Diskriminierung erfahren. Die Voraussetzung dafür sind Freiräume, die den Austausch über gemeinsame Probleme, eine Politisierung und Self-Empowerment überhaupt erst ermöglichen". Diese Freiräume wiederum ermöglichen oft Menschen mit mehr Ressourcen, etwa Zeit für die Betreuung der Kinder der Betroffenen, wie bei den Hamburger Women in Action. 

Und was passiert mit all dem Wissen, das die Forschungsgruppen in den drei Jahren angehäuft haben? Profitieren da auch die Beforschten von? Das sei ein wichtiger Punkt, sagt Schwiertz. Die Wissenschaftskommunikation soll auf verschiedenen Wegen stattfinden: So werden nicht nur zwei wissenschaftliche Bücher vorbereitet – "Framing Solidarities in Times of Multiple Crises" und "Enacting Citizenship and Solidarity" – , sondern auch ein Handbuch, in dem das Wissen allgemein verständlich aufbereitet und die von den Initiativen gelebte Bürgerschaft an ein größeres Publikum vermittelt werden soll. Hier fließen auch Ergebnisse aus den "Transurban Solidarity Labs" ein, eine Form von Werkstatt-Treffen, bei denen Vetreter:innen der Initiativens zusammenkommen und sich austauschen können.

Als Bindeglied zwischen den Forscher:innen und all den Initiativen fungieren zudem verschiedene "Practice Partners", allen voran die NGO European Alternatives, die den Wissensaustausch und die Kommunikation zusätzlich unterstützen. Schwiertz sagt, sein Team und er verstünden ihre Arbeit als "aktivistische Forschung". "Wir wollen nicht nur die sein, die hingehen und Wissen für die Wissenschaft abzapfen. Wir wollen auch für die Bewegungen von Nutzen sein". Für mehr radikale Demokratie von unten.

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