Tierschützer:innen fordern die Abschaffung aller Tierversuche, Forschende fürchten um den medizinischen Fortschritt. Wie läuft der Diskurs darüber in Deutschland und was braucht es, um als Gesellschaft treffende Abwägungen anstellen zu können?
Die Zahl der für Versuche in der Forschung eingesetzten Tiere sank in Deutschland in den vergangenen Jahren. Immer öfter werden dagegen technische Systeme für Laborexperimente benutzt, die auf tierischen oder menschlichen Zellen oder Geweben basieren. Solche tierversuchsfreien Technologien werden weltweit mit großem Elan weiterentwickelt und ermöglichen enormen Erkenntnisgewinn. Gleichzeitig argumentieren Wissenschaftler:innen, dass Tierversuche bis auf Weiteres in der Forschung unverzichtbar sind.
Haben Tierversuche eine Lobby?
Kritische Stimmen in Debatten um Tierversuche implizieren gelegentlich, es gebe ein willkürliches Festhalten an Tierversuchen - Forschende blieben schlicht bei ihren gewohnten Routinen. Haben Tierversuche womöglich so etwas wie eine Lobby?
"Wenn ich mir das Lobbyregister beim Bundestag anschaue, scheinen eher Tierschutzorganisationen politisch aktiv zu sein, die die Abschaffung von Tierversuchen fordern", schildert Prof. Dr. André Bleich seinen Eindruck der Rollen im Diskurs. Bleich kennt die Debatten - und viele verschiedene Facetten der Arbeit mit Tieren in der Forschung: Er ist Direktor des Instituts für Versuchstierkunde und des Zentralen Tierlaboratoriums der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Er leitet den Forschungsverbund ‘R2N - Replace und Reduce aus Niedersachsen’, der Technologien entwickelt, um Tierversuche zu ersetzen. Und er ist Sprecher eines DFG-geförderten Konsortiums, das Methoden zur objektiven Bewertung der Belastung von Versuchstieren konzipiert.
Sinnvoll, notwendig und ethisch vertretbar
Und wie positioniert sich die Forschung in der Debatte? "Ich sehe keinerlei Anzeichen dafür, dass Forschung an Tierversuchen per se festhält", stellt Bleich fest. Er und seine Mitarbeitenden nutzen tierische Modelle, um menschliche Erkrankungen zu erforschen. Jeden Tierversuch, der in der medizinischen Forschung an der MHH durchgeführt wird, hält er für sinnvoll, notwendig und ethisch vertretbar. "Sonst verlässt der Antrag meinen Schreibtisch nicht", sagt er - und geht davon aus, dass das für Forschung in ganz Deutschland gilt.
Keine Tierversuche, weniger Erkenntnisse
"Ein genereller Verzicht auf Tierversuche in Deutschland würde in der derzeitigen Situation dazu führen, dass wir bestimmte Dinge nicht mehr erforschen können", erklärt Bleich. Das betrifft eminent die Forschung an weit verbreiteten Krankheiten wie Krebs, chronischen Erkrankungen, neuronalen und auch Infektionskrankheiten sowie die Weiterentwicklung von Implantationen und Transplantationen. Natürlich müsse nicht jede Fragestellung im Tier bearbeitet werden, stellt Bleich klar. Aber: "Bestimmte Fragestellungen werden in ihrer Komplexität so weit reifen, dass man wissen will: Ist das, was wir hier im Reagenzglas beobachten, real? Gibt es den vermuteten Kausalzusammenhang? Und welche physiologischen Mechanismen stecken dahinter?" Wollten Forschende dann grundsätzlich ohne Tierversuche arbeiten, würden ihnen wichtige Erkenntnisse entgehen. Diese Einschätzung geben die Fachgesellschaften der betreffenden Forschungszweige auch an die Politik weiter. "Die Wissenschaft auf diesen Gebieten ist in ihrem Dialog mit Politik und Öffentlichkeiten aktiver geworden", sagt Bleich. Ihr Ziel sei jedoch nicht, Politik dazu zu bewegen, an Tierversuchen festzuhalten. "Wir nehmen öffentlich zu bestimmten Aspekten Stellung, um Sachverhalte zu erklären und zur sachlichen Auseinandersetzung mit dem Thema beizutragen."
Diskurs von Emotionen geprägt
Und wie sieht diese Auseinandersetzung derzeit aus? "Der Diskurs ist stark von Emotionen geprägt", sagt Roman Stilling, Referent bei der Plattform 'Tierversuche verstehen'. Die Gefühle in der Debatte rührten in erster Linie daher, dass ein Tierversuch immer bedeutet, einem Tier potentiell Schmerz, Leid und Schaden zuzufügen. "So lautet die rechtliche Definition - anderenfalls wäre es formal kein Tierversuch." Man dürfe ja nicht vergessen, fügt er hinzu, warum Versuche an Tieren durchgeführt würden: "Weil wir das mit Menschen nicht machen können."
Eine - vielleicht die - zentrale Frage, die wir uns beim Nachdenken über Tierversuche stellen, lautet also: Stellen wir den Menschen moralisch über das Tier? Dürfen wir Tieren folglich wissentlich Leid und Schmerz zumuten?
Die Antwort darauf wird von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausfallen. Nun könnte sich eine Gesellschaft damit zufrieden geben, in diesem Punkt nicht einer Meinung zu sein, "agree to disagree", wie es im Englischen heißt. "Soweit sind wir aber nicht", stellt Roman Stilling fest. "Dafür brauchen wir erst einmal einen differenzierten, faktenbasierten Diskurs."
Ermutigend: Shitstorms bleiben aus
Um Grundlagen für diesen Diskurs zu schaffen und mehr Menschen an den Debatten zu beteiligen, hat 'Tierversuche verstehen' die 'Initiative Transparente Tierversuche' gestartet, der sich neben über 100 akademischen Einrichtungen und forschenden Unternehmen auch die VolkswagenStiftung angeschlossen hat. Stilling erklärt, was aus seiner Sicht helfen kann, die Debatten in konstruktivere Bahnen zu lenken: "Forschende sollten über Tierversuche im Kontext ihrer Forschung sprechen." Wer beispielsweise über neue Erkenntnisse zu Demenzerkrankungen oder Infektionen berichtet, sollte auch nicht verschweigen, mit welchen Methoden diese Erkenntnisse generiert wurden. Und Stilling hat gute Nachrichten: "Wir konnten in den vergangenen Jahren gut beobachten, dass eine verstärkte Kommunikation über Tierversuche im Kontext der Forschung nicht unbedingt negative Reaktionen hervorruft." Angriffe und Shitstorms gegen Forschende, die es wagten, über ihre Arbeit mit Versuchstieren zu sprechen, blieben aus. Stilling sieht das als gutes Zeichen, dass unsere Gesellschaft einen ausgewogeneren Diskurs über Tierversuche führen kann.
Kommunikation in passender Umgebung
Auf der Grundlage von Fakten, Wissen und Verständnis im Kontext können Menschen dann für sich überdenken und entscheiden, wie sie zu Tierversuchen in der Forschung stehen. Damit stellt sich allerdings auch die Frage, welche Konsequenzen diejenigen ziehen, die Tierversuche grundsätzlich ablehnen. Wollen sie freiwillig darauf verzichten, Medikamente oder Therapien in Anspruch zu nehmen, weil diese mithilfe von Tierversuchen entwickelt wurden? Sollten Ärzt:innen ihre Patient:innen gar darüber aufklären, dass Behandlungsmethoden, von denen sie profitieren, an Tieren erprobt wurden?
Stilling ist vorsichtig mit solchen Ideen. "Wir dürfen Menschen in Notsituation nicht vor ethische Dilemmata stellen", mahnt er. "Vielmehr sollten wir in passender Umgebung, unter angemessenen Bedingungen und im Kontext konkreter Forschungsfragen über Tierversuche aufklären." Dazu könne ein Flyer in der Arztpraxis sinnvoll sein, ebenso wie öffentliche Diskussionsrunden und Informationsveranstaltungen. "Auf jeden Fall müssen wir dahin gehen, wo die Menschen sind", sagt er. "Und wir müssen das Verständnis unserer Zuhörenden für Prozesse der Forschung stärker schulen."
Die Herausforderung: Erkenntnisgewinn gegen Leiden abwägen
Dabei würde dann auch klar, dass Forschende einen Tierversuch nur anstreben, wenn sie auf andere Weise bereits ausreichend Vorwissen generiert haben, um einen hohen Erkenntnisgewinn von dem Versuch erwarten zu können. Sie haben eine Hypothese, die sie prüfen, und können die Versuchsergebnisse anhand klar formulierter Fragen interpretieren.
Jeder Tierversuch muss zudem aufwendig beantragt werden. Nach geltendem Recht hat der Schutz der Tiere nämlich höchste Priorität und Tierversuche sind genehmigungspflichtige Ausnahmen. Um die Genehmigung zu erhalten, müssen Forschende darlegen, dass der zu erwartende Erkenntnisgewinn schwerer wiegt als Schmerz, Leid und Schaden für das Versuchstier. Das Problem mit dieser Formulierung bringt Stilling in Anlehnung an den österreichischen Tierethiker Herwig Grimm so auf den Punkt: "Das Bild der Waage stimmt nicht." Denn Erkenntnisgewinn, Schmerz und Leid sind schon an sich schwierig zu quantifizieren. Zudem gibt es keine einheitliche, vergleichbare Messgröße für beides.
Wie also können die Verantwortlichen über den Einsatz eines Tierversuches urteilen? "Wir sollten diese Abwägung soweit wir irgend möglich anhand objektiv messbarer Größen operationalisieren", sagt Roman Stilling. Letzendlich aber bliebt von Fall zu Fall ein Ermessensspielraum für die Entscheidenden.
Ohne Grundlagenforschung keine Anwendung
In der Betrachtung von Tierversuchen kommen auch Unterschiede zwischen verschiedenen Forschungsvorhaben zu Tragen. In der Grundlagenforschung ist das Ziel der Erkenntnisgewinn an sich. Bei eher anwendungsorientierter Forschung, die möglicherweise in die Entwicklung neuer medizinischer Therapien mündet, neigt man dazu, das Leid der Tiere gegen einen potentiellen Nutzen für Menschen aufzuwiegen - die Akzeptanz für solche Versuche ist in der Öffentlichkeit höher als für Tierversuche in der Grundlagenforschung.
Wenn Forschende die Genehmigung für einen Tierversuch beantragen, müssen sie angeben, ob sie ihr Vorhaben als angewandte oder Grundlagenforschung kategorisieren. Auch die Versuchstierstatistik, in der alle Tierversuche erfasst werden, unterschiedet nach diesen Kategorien. Doch ist diese Unterscheidung überhaupt sinnvoll? Ist die Frage danach angebracht, und trägt sie zur öffentlichen Debatte bei? Roman Stilling hat seine Zweifel. "Ohne Grundlagenforschung gäbe es das Wissen nicht, auf dem angewandte Forschung fußt", sagt er. "Und oft geht beides fließend ineinander über."
Um in der Debatte um Tierversuche voranzukommen, wünscht er sich folglich mehr Wertschätzung für das Fundament biomedizinischer Forschung: "Es braucht ein klares Bekenntnis zur Grundlagenforschung aus Politik und Gesellschaft", meint Stilling. "Mit mehr Wertschätzung im Rücken könnten Forschende auch ganz anders auftreten, wenn sie über die Wissensproduktion und den Stellenwert von Tierversuchen darin sprechen. Das Thema in allen seinen Facetten verdient mehr Sichtbarkeit."